Bis vor wenigen Jahrzehnten dienten Normen und Standards vorwiegend der Vereinheitlichung der technischen und sicherheitstechnischen Eigenschaften von Komponenten und Anlagen. Die Etablierung umfassender Qualitätsmanagementnormen geht weit darüber hinaus. Sie führt seit etwa 20 Jahren zu einschneidenden Veränderungen in nahezu allen Berufsfeldern und bedeutet für viele Menschen einen spürbaren Verlust an Eigenverantwortung, gestalterischer Möglichkeit und Motivation. Eine Beschränkung auf norm- und standardkonformes Verhalten verleitet uns noch mehr dazu, innerhalb vorgefasster Schemata zu denken, zu handeln und zu konsumieren.
Der Begriff „Norm“ wird seit Menschengedenken sehr vielschichtig verwendet. Er geht vermutlich auf ein bereits vor der Antike bekanntes Messinstrument „Gnomon“ zurück, dem bis heute üblichen Schattenstab für Sonnenuhren. Der „Gnomon des Idios Logos“ ist eine Papyrusrolle aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert, die vor allem den Rahmen zur Wahrung eines gesellschaftlichen Status verschiedener Teile der Bevölkerung dokumentierte.
Soziale Normen sind seit jeher ein wichtiges Spiegelbild einer Gesellschaft, sie werden von frühester Kindheit an von der Familie und von nahestehenden Menschen vermittelt. Im besten Sinn sind diese Normen Orientierungshilfen, um das gedeihliche Zusammenleben der Mitglieder einer Gemeinschaft zu vereinfachen.
Für den Einzelnen in einer offenen Gesellschaft sind soziale Normen nicht das Ziel, sondern bloß die Grundlage für die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit und einer auf eigenen moralischen Werten gestützten Urteilsfähigkeit und Handlungsweise.
Auf technischer Ebene geht der Ursprung der Normung und Standardisierung auf den britischen Ingenieur Joseph Withworth zurück, der 1841 das nach ihm benannte Normgewinde definierte. Er ebnete mit seinem Prinzip der Gleichartigkeit von Teilen den Weg von handwerklicher Teileherstellung zum Austauschbau.
Noch in meiner Schulzeit bezogen sich die Aufgaben der Normung und Standardisierung in dem von Withworth geprägten Sinn vorwiegend auf die Vereinheitlichung der technischen und sicherheitstechnischen Eigenschaften von Komponenten, Baugruppen und Anlagen.
Eine weit über technische Merkmale hinausgehende, durchgängige Regulierung, die es mittlerweile geschafft hat, selbst unser Zusammenleben sehr weitreichend zu beeinflussen, hat ihren Ausgangspunkt in der Automobilindustrie der 1980er Jahre genommen. Damals ging es um die durchaus legitime Forderung der Fahrzeughersteller an ihre Zulieferer, gleichbleibende Qualitätsstandards und die Nachvollziehbarkeit von Abläufen auf allen Prozessebenen sicherzustellen. Die daraus hervorgegangene ISO 9000 Normenreihe hat unsere Gesellschaft in den letzten 20 Jahren mehr verändert als vielen von uns bewusst ist.
Ob Spital, Schule oder soziale Hilfsorganisation, Restaurant oder Taxiservice, ob Müllabfuhr, Universitätsinstitut oder Handwerksbetrieb: Mit dem Anspruch, in jeder Organisationseinheit jede Rolle bis ins Detail festzulegen und so das Motto „Jeder ist ersetzbar“ in eine Norm zu gießen, werden frühere kompetente Handlungsweisen „nach bestem Fachwissen und Gewissen“ durch ein striktes Regelwerk ersetzt, deren Einhaltung vielfach mit einem dauerhaften Verlust an Eigenverantwortung, gestalterischer Möglichkeit und Motivation für den Einzelnen einhergeht.
In vielen Bereichen unternehmerischen Handelns sollen Normen und Standards Rechtssicherheit und sichere Erträge bei geringem Risiko bringen. Konsumenten wähnen sich demgegenüber in einer gleichbleibenden Produktqualität und Produktsicherheit mit klar geregelter Garantie und Gewährleistung.
Diese scheinbare „Win-Win-Situation“ hält leider keiner eingehenderen Betrachtung stand. Ob materielle Produkte, Geldwirtschaft, Dienstleistungen, Bildung oder Mobilität: Die formale Erfüllung von Auflagen und Verantwortlichkeiten mit einem strikt geregelten Handlungsrahmen hat uns Menschen abermals darin bestärkt, nach vereinfachenden Modellen in einem abgegrenzten Definitionsbereich zu denken, zu handeln und zu konsumieren.
Die verinnerlichte Beschränkung auf norm- und standardkonforme Denk- und Handlungsweisen führt vielfach auf eine subjektive Einstellung, die
- den jeweiligen Definitionsbereich einzelner Prozesse nicht mehr in Frage stellt
- die Schadwirkung von Prozessen jenseits ihres Definitionsbereiches ausblendet
- die Einzigartigkeit eines Menschen auf vorgefasste Rollenbilder reduziert
Ganzheitlich gesehen führt eine solche Abgrenzung zu einer immer weitreichenderen Entkoppelung von natürlichen Umgebungsbedingungen, von persönlichen Bedürfnissen und Gleichgewichten, und letzendlich zu Prozessen, für deren vordergründige „Bestimmtheit“ wir jetzt oder später teuer bezahlen müssen.