Gefahren von neolithischem Prozessdenken
Fallbeispiel Kernenergie
Als Kind hatte ich 1978 vor der weit über Österreich hinaus berühmt gewordenen Volksabstimmung die Gelegenheit, das fertig gebaute Atomkraftwerk in Zwentendorf zu besuchen. Die „private“ Führung durchs Haus übernahm ein ehemaliger Schulkollege meines Vaters. Zu Vaters abschließender Bitte um eine aufrichtige persönliche Einschätzung auf Grundlage seiner Fachkunde verweigerte der Bekannte jede Stellungnahme: Er konnte seine eigene Meinung augenscheinlich nicht mit seinem Rollenbild als bezahlter Mitarbeiter der Betreibergesellschaft vereinbaren.
Am 5. November 1978 entschied die Bevölkerung weitestgehend unerwartet gegen die Inbetriebnahme des fertig gebauten Kernkraftwerks und machte Zwentendorf damit zum einzigen „sauberen“ und wirklich sicheren funktionstüchtigen Atomkraftwerk der Welt.
Im Fall der Kernenergie lautet die wohl bedeutsamste „neolithische Vereinfachung“, die eine Etablierung zur großtechnischen Stromerzeugung ab Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt erst denkbar machte, etwa folgendermaßen:
Radioaktivität bleibt im Kernkraftwerk sicher eingeschlossen.
Wahr ist, dass selbst die frühesten Pioniere der Reaktortechnik wussten, dass eine solche Annahme von Grund auf falsch ist:
- Radioaktivität kann durch bauliche Maßnahmen nur abgeschwächt, aber selbst in einem unbeeinträchtigten Normalbetrieb niemals sicher eingeschlossen werden
- Abgebrannte, weiterhin radioaktive Brennstoffe können nicht dauerhaft im Kernkraftwerk verbleiben und müssen ihrerseits sicher abtransportiert und eingeschlossen werden
- Die im Normalbetrieb kontrolliert ablaufende Spaltungs-Kettenreaktion kann im Störfall durch keine wie auch immer geartete Sicherheitsmaßnahme spontan beendet werden
In einer ganzheitlichen Betrachtungsweise mag der für seinen gesunden Menschenverstand bekannte Nobelpreisträger Enrico Fermi, der 1942 den ersten funktionstüchtigen, gänzlich ungeschirmten Kernreaktor namens Chicago Pile 1 vorführte, den geladenen Gästen etwa folgende Dinge erklärt haben:
Dieser Reaktor setzt ionisierende Strahlung frei, von der wir heute wissen, dass sie für den Menschen schädlich und in entsprechend hoher Dosierung tödlich ist. Ich werde diesen Versuch umgehend beenden, sobald die Detektoren eine nach unserem heutigen Ermessen gefährlich hohe Strahlendosis anzeigen.
Praktisch werden Messaufbau und Brennmaterial auch weit über die aktive Betriebsphase hinaus radioaktive Strahlung freisetzen. Genau genommen bedeutet das, dass wir uns nur durch den gänzlichen Einschluss des Reaktors selbst, und durch dauerhafte Abschirmung des abgebrannten Materials weitgehend vor der Strahlung schützen können.
Wenn bei der Kettenreaktion an diesem Versuchsreaktor etwas schief läuft, dürfen wir nicht darauf hoffen, dass der Ofen von selbst ausgeht. Der Reaktor würde unkontrolliert durchgehen und wir alle, die wir da sitzen oder stehen, würden schnurstracks in den Himmel oder zur Hölle fahren. Der nette junge Mann mit Axt hat die überaus verantwortungsvolle Aufgabe, dieses Seil bei Gefahr zu durchtrennen, um den Reaktor mittels des am Seil hängenden Zauberstabes in einen unterkritischen Zustand zu versetzen. Das sollte uns die Zeit geben, weiterführende Maßnahmen einzuleiten, um den Reaktor wieder unter Kontrolle zu bringen und unseren kleinen Versuch geordnet abzuschließen.
Sollte der Strick gerissen sein und alles nichts helfen, werden die drei freundlichen Herrn oberhalb des Reaktors ihren Auftritt haben; ihre Aufgabe wäre es in dem Fall, den Reaktor mit einer bereitgestellten Flüssigkeit zu übergießen. Ihnen sei es in diesem Fall unbenommen, ob Sie lieber beten oder laufen möchten – wir können Ihnen dann sehr wahrscheinlich nicht mehr helfen.
Ungeachtet der bis heute allesamt ungelösten Probleme, die ich Fermi in den Mund gelegt habe, haben unzählige Menschen seit über 60 Jahren auf vielfältige Weise nach dem in diesem Fall völlig illegitimen Prinzip „Versuch und Irrtum“ zur weltweiten Verbreitung der Atomenergie beigetragen.
Während in Italien und Österreich spätestens mit der Tschernobyl-Katastrophe im Jahre 1986 ein breiter gesellschaftlicher und parteiübergreifender Konsens einkehrte, änderte sich in vielen anderen Ländern nur wenig, das überwiegende Motto lautete eher Verdrängen als Verstehen.
Von einer einflussreichen Lobby wurde die ausschließliche Schuld am damaligen Reaktor-Unfall dem völligen Versagen des handelnden Personals und der Kraftwerksführung zugeschrieben. Die von der Kernkraft ausgehenden Gefahren, Opferzahlen und langfristigen Umweltschäden wurden kleingeredet, und das weltweit zunehmende Unbehagen gegenüber der Atomkraft wurde auf substanzlose Panikmache der Medien und auf zu wenig Faktenwissen in der Bevölkerung geschoben. Maßgebliche Industrienationen hielten nach erster Schockstarre letztlich an der Kernenergie und an ihrem weiteren Ausbau fest.
Ein abermaliges verheerendes Reaktorunglück passierte in Japan, einem Land, das bis heute für seine besonders hohen technischen Standards bekannt ist: Am 11. März 2011 löste ein Erdbeben eine Unfallserie im Kernkraftwerk Fukushima aus, die zu einer weitreichenden radioaktiven Kontaminierung der land- und meerseitigen Umwelt führte.
Die Einsicht aus dieser erneuten Katastrophe, dass Atomkraft eine nachhaltig lebenszerstörende, nicht sicher beherrschbare Technologie ist, hat in Europa vor allem Deutschland, und in weiterer Folge auch Belgien und die Schweiz dazu bewogen, der Atomenergie den Rücken zuzukehren.
Zur selben Zeit philosophierten Experten keine 200km von Tschernobyl entfernt über „substanziell höhere Standards für die sichere und innovative künftige Nutzung der Kernenergie“.
Die EU initiierte „Stresstests“ für Atomkraftwerke. Zur unbeeinträchtigten Fortführung von Handelsbeziehungen mit dem betroffenen Land erließ die Europäische Kommission noch im März 2011 eine Durchführungsverordnung, in der die Strahlungs-Grenzwerte für aus Japan importierte Nahrungs- und Futtermittel auf ein Mehrfaches der „normalerweise“ als gesundheitlich unbedenklich eingestuften Dosis angehoben wurden.
Bis heute arbeiten Menschen höchst erfolgreich daran, das Ausmaß großtechnischer Nutzung der Atomkraft weltweit stabil zu halten, indem sie in jenen Ländern der Welt expandieren, deren Machteliten immer noch bereit sind, für einen wie auch immer gearteten kurzfristigen Nutzen das Schicksal der sie umgebenden lebendigen Welt für immer aufs Spiel zu setzen.